
Der europäische Gerichtshof hat entschieden: Arbeitszeit muss vollständig erfasst werden, zum Schutz der Arbeitnehmer. In Deutschland gibt es bisher keine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung. Diese besteht in der Regel nur in tarifgebundenen Branchen. Arbeitgeber können Überstunden allerdings weiterhin als freiwillig einzustufen. Wie stark der Druck auf die Mitarbeiter ist, „freiwillig“ Mehrarbeit zu leisten, ist eine Frage der Unternehmenskultur. Gesund und produktiv ist eine Unternehmenskultur allerdings nicht, in der ein Vorankommen im Unternehmen auf solch unausgesprochenen, unverbindlichen Regeln basiert.
Zeit ist ein sehr knappes Gut. Ein Mangel an Work-Life-Balance, der meist auf zu wenig Zeit für zu viele Aufgaben beruht, ist wesentliche Quelle von Stress. Je mehr gearbeitet wird, umso mehr sprechen Männer und Frauen von einer schlechten Balance. Das gilt sowohl für Angestellte ohne minderjährige Kinder als auch für diejenigen, die Kinder zu betreuen haben. Die negativen Auswirkungen von Überstunden werden nicht kompensiert durch die finanziellen Vorteile, die Überstunden möglicherweise mit sich bringen.
Je mehr gearbeitet wird, umso schwieriger wird es, eine Balance zwischen work und life zu finden. Das gilt selbst dann, wenn diese Überstunden freiwillig geleistet werden. Die OECD unterstreicht: Vereinbarkeit wird besonders dann schwierig, wenn Kinder im Haushalt leben und Eltern viele Stunden, vor allem in anspruchsvollen Beschäftigungen arbeiten. Auch Selbständigkeit erschwere die Work-Life-Balance massiv. Überstunden sind signifikante Quelle für Konflikte zwischen Beruf und Privatleben. Denn sie führen dazu, dass weniger Zeit für Kinder und andere Familienmitglieder zur Verfügung steht. Die Zahl der Arbeitsstunden hat den größten Einfluss darauf, wie gut oder schlecht familiäre Verpflichtungen mit Erwerbs-Arbeit verbunden werden können. Der zweitwichtigste Einflussfaktor sind unsoziale Arbeitszeiten, am Abend, in der Nacht und an den Wochenenden.
Die Internationale Arbeitsorganisation betont in verschiedenen Kommentaren, dass sich lange Arbeitstage nicht nur auf den einzelnen Angestellten auswirken, sondern negative Folgen auch für die Familie und die Gesellschaft im Gesamten mit sich bringen. Kürzere und familiengerechte Arbeitszeitzeiten sind nicht die einzige Voraussetzung für familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Sie spielen aber eine wesentliche Rolle. Sie haben auch dann noch einen wesentlichen Effekt, wenn andere Job-Spezifika in multivariaten Modellen berücksichtigt werden. Eine Unternehmenskultur, die Überstunden wertschätzt und auf ein hohe zeitliche Selbstbestimmtheit drängt, führt mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Überstunden.
Eine Erfassung und damit möglicherweise eine Reduzierung der Arbeitszeit unterstützt also sehr wesentlich die Work-Life-Balance. Nach einer Analyse des Social Survey in fünf europäischen Ländern bestehen die stärksten Work-Life-Balance-Konflikte in Großbritannien und die geringsten in Finnland und Norwegen. In allen fünf Ländern ist die Anzahl der Arbeitsstunden der stärkste Vorhersage-Faktor für Work-Life-Konflikte. Angestellte berichten häufiger von Vereinbarkeits-Konflikten, wenn sie in mediterranen oder osteuropäischen Ländern leben und nicht in nordischen Ländern.
Ein etwas anderes Bild zeigt sich, wenn diese Effekte nach Männern und Frauen aufgeschlüsselt werden. Männer berichten nach einer Studie von Duncan Gallie und Helen Rusel am seltensten in Dänemark, Schweden und Norwegen von Stress mit der Work-Life-Balance. Frauen dagegen beschreiben grundsätzliche Konflikte besonders in Frankreich, Dänemark und Schweden. Die stärkeren Konflikte, die französische Frauen beschreiben, sind möglicherweise durch die relativ geringe Beteiligung der französischen Männer an der Hausarbeit zu erklären. Für dänische und schwedische Frauen scheint der Konflikt dagegen mit einer höheren Anzahl an Arbeitsstunden in Verbindung zu stehen Väter und Mütter arbeiten dort vor allem Vollzeit. Auch in Skandinavien verbringen Frauen noch immer vergleichsweise mehr Zeit mit Hausarbeit als Männer. Schwedische Frauen, die Teilzeit arbeiten, während ihre Männer Vollzeit arbeiten, berichten von weniger Stress.
Selbst die vergleichsweise gute Betreuungsinfrastruktur in Schweden, ein gesellschaftlich relativ egalitäres Familienmodell und familienfreundliche Einstellungen vieler schwedischer Arbeitgeber scheinen den Stress durch zu viele Stunden Erwerbsarbeit nicht aufwiegen zu können. Leittragende sind dabei auch in Skandinavien noch immer vor allem die Frauen, die eine schlechte Work-Life-Balance durch Teilzeitarbeit zu kompensieren versuchen, mit dramatischen Folgen für ihr Lebenseinkommen und die Karrierechancen. Leidtragende sind aber auch die Männer, die sich durch eine Kultur der Überstunden nur schwer von herkömmlichen Rollenmodellen lösen können und wenig Zeit für ebenso wichtige Dinge wie Arbeit in ihrem Leben haben.
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